Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch (8) – endlich Regen

30. April 2020. Endlich Regen. Großes Aufatmen. Nicht nur, weil sich das Land, weil sich sämtliche Sträucher, Bäume, Gräser, Kräuter und Blumen geradezu hörbar freuen. Nicht nur, weil jetzt mehr von den Nichtskapierern und den Schnellvergessern zuhause bleiben, statt sich schon wieder viel zu dicht durch Supermärkte und Fußgängerzonen zu schieben. Nein, ganz einfach mir selbst tut dieser Wetterumschwung gut. Vorige Tage saß ich nämlich an meinem Fluchtort auf dem Land vor dem Haus in der Sonne und dachte, ich werde jetzt wirklich ein bisschen seltsam. Schönstes viel zu frühes Frühsommerwetter, Gesumse in der Luft, Blick auf die blühenden Obstbäume gegenüber. Strahlend blauer Himmel, vollkommen ebenmäßig blau, kein Wolkenfetzchen, kein einziger Kondensstreifen, nicht die kleinste Farbvariation. Ein Effekt, der keine räumliche Tiefe mehr erkennen lässt. In Wirklichkeit sitze ich vielleicht unter einer blau eingefärbten Glasglocke, dachte ich, wir alle sitzen unter dieser Glasglocke, und von draußen beobachtet jemand dieses Experiment und schaut, was passiert, wenn man ein unbekanntes Virus auf diese Lebewesen, die wir sind, loslässt. Ein Moment, in dem die Welt fremd wird, ein Moment von étrangeté, um bei Camus zu bleiben.

Jetzt ziehen wieder Wolken über den Himmel, bedecken ihn ganz und gar, lassen dort wieder eine Lücke, in der es blau aufblitzt, türmen sich auf- und voreinander, und ich bin mir einigermaßen sicher, dass es sich dabei nicht um Projektionen auf einer Glaskuppel handelt. Dass die Welt doch die ist, die sie ist, obwohl das Leben gerade so anders ist. Es war ja auch nur ein kurzer befremdlicher Moment, weil mich vollkommen wolkenloser, azurner Himmel im Süden schließlich noch nie irritiert hat, im Gegenteil, der Anblick gehört ja geradezu zum ersehnten Südenurlaubsgefühl. Aber zwischen solch einem kurzen Moment der étrangeté und dem Aufbrechen des Absurden ist die Decke dünn, das weiß man als Camus geschulter Mensch, und jetzt kommt es mir so vor, als sei diese ohnehin dünne Decke gerade noch dünner geworden, was für ein Wahnsinn ist das gerade doch alles, und wie zerbrechlich ist in Wirklichkeit das, was wir unsere Normalität nennen, die jetzt alle so schnell wie möglich wieder haben wollen.

Diese Zerbrechlichkeit ist ein sehr präsentes Gefühl, während da draußen alles so ganz normal aussieht wie immer, und das Land sich über den Regen freut. Auch ich freue mich daran, ich freue mich an der frischen Luft und daran, durch den Wald laufen zu können, ohne jemandem zu begegnen, und an vielen anderen Dingen. Aber ich brauche noch nicht einmal Nachrichten zu schauen oder zu lesen, um plötzlich Bilder von Intensivstationen und Altenheimen vor Augen zu haben, wo die Menschen ohne Abschied sterben müssen oder die letzte Zeit, die ihnen bleibt, allein gelassen werden, und es zerreißt mir das Herz. Widersprüche. Zwischen-Sein. Ich habe keine Arbeit, aber auch keinen Urlaub. Ich telefoniere sehr, sehr viel, aber ich vermisse trotzdem meine Freunde. Die Nachrichten verkünden vermehrt die Hoffnung auf die Entwicklung eines Impfstoffes, ebenso wie die Besorgnis über einen Wiederanstieg der Infektionen aufgrund der Lockerung der Beschränkungen. Ausgespannt zwischen Freude und Trauer, Furcht und Hoffnung, das ist die Grundsituation des Menschen. Wolfgang Janke nannte es „das existenziale Quadrat“.* Aber selbst für einen philosophisch geschulten Menschen macht es einen Unterschied, darum zu wissen, oder sich gleichsam mit allen vier Gliedmaßen darin ausgespannt zu fühlen.

Und was ist jetzt mit der Pest? Ich hatte sie die letzten Tage beiseite gelegt. Ein bisschen erschlagen davon, dass ALLE über Die Pest zu reden und zu schreiben scheinen. Und auch wegen der Sorge, zu viel Schwere in dieses zerbrechliche Gleichgewicht der Tage zu werfen. Noch mehr Schwere braucht ja gerade kein Mensch. Ich will nicht ausschließen, auf Die Pest zurückzukommen. Aber ich selbst freue mich beim ziellosen Herumtrödeln im Netz gerade an den komplett unvernünftigen, spaßigen Dingen wie dem Nachstellen von Kunstwerken mit Alltagsgegenständen (schaut mal unter #tussenkunstenquarantaine). Und vorhin entdeckte ich jemanden, der seinem Meerschweinchen ein eigenes Museum eingerichtet hat (The Piggenheim Museum).** Es ist einfach großartig. Was für eine Feier des erhabenen Unsinns, des fröhlichen Blödsinns, eine Revolte der Phantasie. Danke dafür! In diesem Sinne (an mich selbst gerichtet und alle, die es brauchen): Kopf hoch – und à bientôt.

*mehr zu Wolfgang Janke im Blog über die Stichwortsuche.
** Danke für diese Entdeckung an Draußen nur Kännchen

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4 Antworten zu Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch (8) – endlich Regen

  1. Ina Lechermann sagt:

    Hallo Frau Reif,

    hier der Link zu einem interessanten Camus-Artikel der LRB:

    https://www.lrb.co.uk/the-paper/v42/n09/jacqueline-rose/pointing-the-finger

    Viel Spaß beim Lesen und
    herzliche Grüße

    Ina Lechermann

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Liebe Frau Lechermann, herzlichen Dank für den interessanten Link – ich werde mir noch die Zeit nehmen, den Artikel zu lesen! Viele Grüße und alles Gute für Sie!

  2. Klaus Küster sagt:

    Danke liebe Anne-Kathrin für Deinen wunderbaren Kommentar am Mai-Vorabend.
    Dazu ein Zitat von Antonio Gramsci:
    „Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Klaus, wunderbar. Ich denke, das Zitat ist ganz im Sinne Camus‘ – und in meinem auch! Herzlichen Dank dafür, liebe Grüße und bleib gesund!

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