Camus auf dem Coffeetable – „Der Fremde“ mit Illustrationen von José Muñoz (75 Jahre „Der Fremde“ 4)

Möglich, dass der eine oder die andere die von mir ziemlich hymnisch besprochenen Graphic-Novel-Versionen von Camus-Werken doch eher als ungebührliche „Camus-Comics“ benaserümpft oder sie allenfalls als literarische Lockvogelangebote für auf visuelle Reize sozialisierte Jugendliche durchgehen lässt. Nun, für all jene hätte ich da noch was anderes im Angebot, nämlich eine Ausgabe von Der Fremde als Coffeetable taugliches Bilderbuchgroßformat für Erwachsene mit Illustrationen von José Muñoz. Gallimard hat diese Ausgabe bereits 2012 zum 70. Jahrestag des Erscheinens von Camus‘ erstem Roman in seiner Reihe Futuropolis herausgebracht. Anders als bei der Graphic Novel von Jacques Ferrandez wird hier der Text nicht in Bilder umgesetzt bzw. von diesen ersetzt, sondern der französische Originaltext wird vollständig wiedergegeben. Einen gewissen Eingriff erfährt der Text dennoch, da er mit vielen Absätzen und Weißräumen gesetzt ist – was zusammen mit den Schwarz-Weiß-Illustrationen von José Munoz einen stimmigen, ausgewogenen Gesamteindruck ergibt. Dazu kommt der verblüffende Effekt, wie viel „lebendiger“ die Hauptperson Meursault als Erzähler dadurch wird: Man „liest“ die Weißräume zwischen den Zeilen oder Absätzen automatisch als Sprechpausen und Atemholen und folgt diesem vorgegebenen Rhythmus statt einem eigenen Lesetempo.

Der 1942 in Buenos Aires geborene Zeichner José Munoz ist für seine expressiven Schwarz-Weiß-Illustrationen bekannt (und mehrfach ausgezeichnet), die in ihrer kontrastreichen Flächigkeit stark an Holz- oder Linolschnitte erinnern, obwohl er mit Pinsel und schwarzer Tusche arbeitet. Dabei greift der Illustrator einzelne, besonders prägnante Szenen heraus, ohne dass er die gesamte Geschichte in Bildern nacherzählt. Ein „Film im Kopf“ wie bei der Graphic Novel entsteht dabei nicht. Durch ihre expressive Überzeichnung und ihren starken Abstraktionsgrad behaupten die oft ganzseitigen Illustrationen neben dem Text eine starke künstlerische Eigenständigkeit. Ob dieser Stil gefällt oder nicht, ist dann letztlich Geschmackssache. Um ehrlich zu sein, bin ich in dieser Hinsicht mit mir selbst ein wenig uneins. Die unzweifelhaft hohe künstlerische Qualität spricht mich an, aber mit der überzeichneten, holzschnittartigen Physiognomie der Charaktere fremdele ich. Allemal ist es aber ein schönes Gefühl, diesen gewichtigen Band in die Hände zu nehmen – ein ganz anderes Schau- und Lesevergnügen als man es bei einem schlichten Taschenbuch hat und deshalb auch ein schöner Anreiz, den Text (wieder oder vielleicht erstmals) im französischen Original zu lesen.

♦ Albert Camus: L’Étranger. Accompagné des Dessins de José Muñoz. Gallimard/Futuropolis, Paris 2012. 144 p., 240 x 335 mm, 24 Euro.

Ein Beitrag in einem englischsprachigen Blog mit weiteren Illustrationen hierZur Webseite von José Muñoz hier. In der gleichen Reihe ist auch eine von José Muñoz illustrierte Ausgabe von Le premier homme erschienen.

Auf youtube kann man José Muñoz beim Zeichnen zuschauen:

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