Albert Camus und Bob Dylan erhalten den Literaturnobelpreis

 

Philosophenzimmer im Kunsthotel Arte Luise in Berlin mit Dostojewski und Bob Dylan, gemalt von Oliver Jordan (links über dem Sofa). ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Philosophenzimmer im Kunsthotel Arte Luise in Berlin:
Gegenüber von Camus hängen Dostojewski und Bob Dylan,
gemalt von Oliver Jordan (links über dem Sofa). ©Foto: akr

Manchmal braucht man ja nur lang genug zu warten, dann klären sich die Dinge von selbst. Fast genau drei Jahre ist es nämlich her, dass ich an dieser Stelle darüber grübelte, welche sinnträchtige Verbindung es zwischen Albert Camus und Bob Dylan geben könnte – traf ich doch bei einer Übernachtung in dem von Oliver Jordan ausgestatteten Philosophen-Zimmer im Berliner Art Hotel Luise dort nicht nur auf Camus sondern eben auch auf ein Porträt des Robert Allen Zimmerman, alias Bob Dylan. Heute nun stellt sich diese Verbindung quasi von selbst her, denn auf den Tag genau 59 Jahre nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an Albert Camus darf am heutigen 10. Dezember Bob Dylan in Stockholm die höchste Auszeichnung der literarischen Welt entgegen nehmen. Wie’s aussieht wird er das zwar nicht persönlich tun und deshalb auch nicht etwa singen statt reden. Schade. Aber immerhin soll Patti Smith, bekennende Camus-Freundin, einen Dylan-Song vortragen, und damit hätten wir dann auch schon mal, quasi über Eck, eine schöne Dylan-Camus-Verbindung.

Camus-Porträt von Oliver Jordan im Kunsthotel Arte Luise in Berlin. ©Foto: akr

Camus-Porträt von Oliver Jordan im
Kunsthotel Arte Luise in Berlin. ©Foto: akr

Ob der erste Musiker und Vertreter der Popkultur in der Reihe der Preisträger die Auszeichnung nun verdient habe oder nicht, darüber ist bereits überreichlich debattiert (sowie gejubelt, gespottet, geätzt) worden, da brauchen wir uns nicht einreihen, wer mag, kann sich damit ein Stündchen im Netz vertrödeln. Das tat ich gerade und beschloss daraufhin, das Thema hier zu streichen und lieber nochmal der Frage nachzugehen, wie es denn nun um die Beziehung von Dylan und Camus bestellt ist. Geistesverwandtschaftliche Bezüge lassen sich da wohl erkennen: Dylan, quasi der Erfinder des Protestsongs, Rebell gegen die herrschenden Verhältnisse, gegen Krieg, Not und Unrecht – ein homme révolté wie Camus, der, ebenso wie Camus, Generationen von Menschen inspiriert und ermutigt hat, für ihre Überzeugung einzustehen. Anders als zum Beispiel die Musikerkollegen Patti Smith oder Eric Andersen hat sich Dylan aber, soweit ich weiß, nie direkt auf Camus als Inspirationsquelle bezogen (selbst mit Like a rolling stone ist, so schön es auch wäre, nicht der herabrollende Stein des Sisyphos gemeint). Aber so richtig weiß ich es halt auch nicht, denn obwohl ich durchaus noch zu denen zähle, die einst am Lagerfeuer zur Klampfe Blowin‘ in the Wind und Knockin‘ on heavens door sangen, kenne ich mich in dem gigantischen Werk seiner lyrics, für das er nun diesen Preis bekommt, nicht annähernd so gut aus, dass ich ad hoc eventuell verborgene Camus-Bezüge darin ans Licht befördern könnte.

Theo Roos. ©privat

Theo Roos. ©privat

Deshalb frage ich lieber jemanden, der es möglicher Weise besser weiß: Theo Roos, in Köln lebender Philosoph und Musiker, Autor der Philosophischen Vitamine (Kiepenheuer & Witsch 2005 und 2007) sowie der gleichnamigen Reihe in der 3Sat-Kulturzeit (2003 bis 2010) hat über Camus ebenso geschrieben wie über Bob Dylan, kennt sich also aus, erinnerte sich an unsere Begegnung am Rande der Camus-Ausstellung von Oliver Jordan in Bonn und war so nett, meine Fragen in aller Ausführlichkeit zu beantworten, wofür ich mich sehr herzlich bedanke!


Gibt es direkte Bezüge in den Texten von Bob Dylan zum Werk bzw. zum Denken von Albert Camus? Und wo sehen Sie selbst Gemeinsamkeiten zwischen beiden?

Dylan verweist in den Liner Notes zu „Biograph“ auf den Einfluss der französischen Schriftsteller. Seine damalige Freundin Suzie Rotolo begeisterte ihn für die französische Literatur. Dylan nahm alles auf, was ihn anturnte: Populäre- und Bildungskultur, high- und lowbrow. Schon am Anfang seines Musikerdaseins macht Dylan keine Unterschiede zwischen E- und U-Kultur. Es gibt nur gute und schlechte Musik. Das Gleiche gilt auch für Malerei und Dichtung. Shakespeare versteht man erst richtig, wenn man Jerry Lee Lewis gehört hat. Diese Verbindung bzw. Nicht-Unterscheidung von sogenannter Hoch- und Niedrigkultur ist Methode bei Dylan. Seine Radioshow „Theme Time Radio“ lebte von dieser Verbindung. In einer der Shows zitiert er am Anfang aus „Was ihr wollt“ von Shakespeare. „Willie the Shake“, wie Dylan ihn liebevoll nennt, würde fast schon reichen bzw. reicht schon. Er gibt uns alles, was wir brauchen. Fast. Aber um die Körperlichkeit, die Kraft, den Lebens- und Erfahrungsdrive, das Ethos der Shakespeare-Sprache richtig zu spüren, ist ab und an Jerry Lee Lewis vonnöten. „As usual Willie the Shake says everything you need to say“ & „you haven’t heard anything until you hear Jerry Lee Lewis singing Shakespeare“… That’s what this show is all about“! Darum geht es in seinen Radioshows, in seinen Konzerten, in den Songs und nicht zuletzt in seinem Leben. Es geht um eine Haltung, ein Ethos, ums Anders-Werden, um Veränderung, nicht um ungefährliche Bildung, Macht und elitäres Besser-Wissen. Es geht um Liebe und um das, was Liebe, wenn ich mich ihr aussetze, mit mir macht. „I can change I swear, see what you can do. I can make it through and you can make it too.“ (Big Girl, Blood on the tracks.) Nur im Sich-Aussetzen geschieht Veränderung. Dylan wird ein Anderer, wenn Willie the Shake und Jerry Lee Lewis sich bei ihm treffen.

Rimbaud turnte ihn an bei den Franzosen, und Dylan nennt ausdrücklich Camus in den Liner Notes von „Biograph“.

Bob Dylan-Porträt von Oliver Jordan. ©Oliver Jordan

Bob Dylan-Porträt von Oliver Jordan.
©Oliver Jordan

Auch bei Camus liegen die großen Probleme auf der Straße, und jeder kann ein absurder Held sein oder zum „Rolling Stone“ werden. Erkenntnis wird Existenz, weil jemand versucht, nach der Erkenntnis zu leben. „Die Philosophien sind so viel wert wie die Philosophen“, schreibt Camus.

Nur das zählt: Leib und Seele. Der Leib hat seine eigene Seele. Es ist Körper und Pulsschlag, was Camus und Dylan verbindet. Es ist das Existentielle, was sie vor allem Establishment und dessen Negationen schützt, vor der Angst vor dem Anderen, die sich gerne in abschätziger Arroganz äußert und der, die sich in der Ausgrenzung des Anderen als „Volk“ zusammenballt. Camus und Dylan bleiben in der Revolte als Einzelne, die sich an Einzelne richten. Sie begeben sich nicht in die Diktatur der Quote und wollen den Einzelnen auch nicht als Quotenvieh degradieren. Kierkegaard lässt grüßen!

Dylan beschreibt das sehr genau in einem Interview von 2011 mit dem Schriftsteller Jonathan Lethem: „Wenn man an all die Musiker denkt, die in den Dreißigern und Vierzigern Platten gemacht haben, oder in den Fünfzigern, da waren die Bands riesig, klar, aber die Vision hatte nur einer, die Louis-Armstrong-Band war die Stimme von Louis Armstrong, sein persönlicher Ausdruck. Und wenn man an all das Rhythm-and-Blues-Zeug denkt, das Rockabilly-Zeug, das Zeug, von dem ich gelernt habe, das beruhte alles auf einzelnen Leuten. Das ist es, was man gehört hat – der Einzelne, der in der Wildnis heult. Das ist jetzt irgendwie vorbei. Ich meine, wer ist denn der letzte echte Einzelgänger unter den Musikern, vielleicht Elton John? Ich rede von Künstlern, die den Willen haben, sich nicht einzureihen, die nur ihre eigene Wirklichkeit gelten lassen. Patsy Cline und Billy Lee Riley. Platon und Sokrates, Whitman und Emerson. Slim Harpo und Donald Trump. Diese Kunst haben wir verloren. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wer es außer mir noch macht.“ Da taucht der Name auf, der im Moment die Quote macht: Donald Trump als Komiker.

Sie machen selbst Musik, haben ein Hörspiel und eine Performance mit dem Titel  „Dylan Denken“  verfasst – was begeistert Sie an ihm – und was an Camus?

Der junge Bob Dylan – Porträt von Oliver Jordan. ©Oliver Jordan

Der junge Bob Dylan – Porträt von
Oliver Jordan. ©Oliver Jordan

Dylan gibt seiner Revolte, die immer die eines Einzelnen bleibt und nie die einer Generation sein kann, einen Namen: „Love and Theft.“ Liebe und Diebstahl. Feinfühlig und furchtlos. Eine Revolte, die mit Liebe vielen Dingen ins Herz kriecht, ob es sich um Jimmy Rodgers oder Ovid handelt, um das amerikanische Songbook oder Weltliteratur. Und aus Liebe klaut er sich das, was er brauchen kann und verwebt es neu, wie ein alter Rhapsode. In einer Rede von 2015 beschreibt er sein rhapsodisches Verfahren: «Diese Songs kamen nicht aus dem nichts. Ich habe  sie nicht frei erfunden. … Alle kamen aus  der Musiktradition, aus traditioneller Folkmusik, traditionellem Rock’n’Roll oder dem traditionellen Swing der Big-Band-Ära. Ich lernte die Lyrics und ich lernte das  Songschreiben, indem ich Folksongs hörte. Ich fing an  zu spielen und traf dann andere Leute, die sie ebenfalls spielten – zu einem Zeitpunkt,  wohlgemerkt, als diese Musik völlig unmodisch war. Was mich nicht daran hinderte,  ausnahmslos diese Folksongs zu singen. Sie gaben mir den Schlüssel zu unserem kollektiven Besitz – zu allem, was allen gehört. Drei, vier Jahre lang hörte ich nichts als  Folkstandards. Wenn ich einschlief, sang ich Folksongs. Ich sang sie eigentlich überall: in Clubs, Bars und Cafés, auf Partys, der grünen Wiese und auf Festivals. Ich traf  andere Sänger, die genau das Gleiche machten. Wir brachten uns gegenseitig neue Songs bei. Ich konnte mir einen Song innerhalb einer Stunde einprägen, selbst wenn ich ihn nur einmal gehört hatte. … Wenn man „John Henry“ so oft gesungen hat wie ich … „John Henry was a steel-driving man/ Died with a hammer in his hand/ John Henry said a man ain’t nothin‘ but a man/ Before I let that steam drill drive me down/ I’ll die with that hammer in my hand.“ Wenn Sie den Song so oft gesungen hätten wie ich, hätten auch Sie „How many roads must a man walk down?“ schreiben können. … All diese Songs sind untrennbar miteinander verbunden. Lassen Sie sich nicht täuschen: Ich habe nur eine andere Tür auf eine andere Art geöffnet. Es klingt anders, sagt aber im Prinzip das Gleiche. Ich hatte nie den Eindruck, das wäre etwas Besonderes. Wissen Sie, ich dachte  immer, ich würde etwas ganz Natürliches tun.»

Existenz kann man sich nicht anlesen und auch nicht besser wissen. Sie entwickelt sich langsam. Sie ist eine ständige Übung: Liebe und Diebstahl! Bis sie ein wenig mehr in Fleisch und Blut übergangen, zur zweiten Natur, natürlich geworden ist. Bei Camus sind es die zwei, drei einfachen Bilder, denen sich sein jugendliches Herz zum ersten Mal geöffnet hatte, an die er sich in seinem Schreiben immer wieder angeschlossen hat, ein kostbares Beben in seinen Texten erzeugen. Camus und Dylan:

Es ist dieses Beben, das die menschliche Existenz in den Grundfesten erschüttert, es ist dieses furchtlose und feinfühlige Ethos.

Aus Ihrer Sicht: Ist Bob Dylan eine gute Wahl als Nobelpreisträger?

Sie ehrt den Nobelpreis.

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Bob Dylan-Porträt von Oliver Jordan. ©Oliver Jordan

Lieber Theo Roos, mehr als die Beantwortung einiger kurzer Fragen haben Sie die
365tage-Camus mit einem veritablen Aufsatz über Bob Dylan, Camus, über kreatives Schaffen, über Musik, Liebe und Leben bereichert! Dafür noch einmal: Ganz herzlichen Dank!

Ebenfalls sehr herzlich danke ich Oliver Jordan, der den Beitrag nachträglich mit neueren Dylan-Porträts aufgehübscht hat!

 

 

 

Zum Weiterlesen:

Zur Webseite von Theo Roos

Die Frage, warum es Zeit wurde, dass Bob Dylan den Nobelpreis bekommt, beantwortet Theo Roos ausführlich in einem Interview mit der Deutschen Welle, nachzulesen hier: „Bob Dylan ist ein Sprachkünstler“

Das Literaturforum literaturkritik.de hat Bob Dylan zum 70. Geburtstag im Mai 2011 eine Sonderausgabe gewidmet, nachzulesen im Netz:

Essays
Jugendliches Genie und ewiger Dilettant
Über Bob Dylan
Von Dieter Lamping

Darkness at the break of noon
Über Bob Dylans Zitatismus
Von Klaus Theweleit

Des alten Knaben Wunderhorn
In seiner legendären Sendung „Theme Time Radio Hour“ lässt Bob Dylan die gute, alte Zeit der US-Musikkultur wieder aufleben
Von Heinrich Detering

Rezensionen
Glaubt keinem Sänger
Klaus Theweleit hat ein Lesebuch zu Bob Dylans siebzigsten Geburtstag herausgegeben
Von Stefan Höppner

Späte Blüte
Robert Sheltons wegweisende Bob-Dylan-Biografie ist nun erstmals in deutscher Übersetzung erschienen
Von André Schwarz

Offene Zukunft
Zwei Standardwerke zu Bob Dylan in erweiterten Neuauflagen
Von André Schwarz

Gelungene Annäherung
Michael Endepols liefert in „Bob Dylan von A bis Z“ mehr als nur Informationen
Von H.-Georg Lützenkirchen

How does it feel
Tino Markworths Biographie über den Gefühlskünstler Bob Dylan
Von Thomas Anz

Hinweise
Eine Auswahl von Bob Dylans Songtexten in englischer Sprache – herausgegeben von Heinrich DeteringBob Dylan im NetzFrühere Artikel zu Bob Dylan aus dem Archiv von literaturkritik.de

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