19. November 1957: Albert Camus schreibt einen Brief

Der Brief von Albert Camus an Louis Germain, veröffentlicht in der Zeitung Combat.

Am heutigen 19. November eine Art „Zeitzeichen“-Beitrag. Dabei habe ich gar kein Ereignis im Sinn, das in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Sondern nur eines, das einmal ganz privat war, und bei dem Albert Camus vermutlich nicht gedacht hatte, dass man 63 Jahre später öffentlich daran erinnern würde. Am 19. November 1957, kurz nachdem er von der bevorstehenden Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn erfahren hatte, schreibt Albert Camus an seinen ehemaligen Grundschullehrer Louis Germain:


Lieber Monsieur Germain, 
Ich habe den Lärm sich etwas legen lassen, der in diesen Tagen um mich war, ehe ich mich ganz herzlich an sie wende. Man hat mir eine viel zu große Ehre erwiesen, die ich weder erstrebt noch erbeten habe. Doch als ich die Nachricht erhielt, galt mein erster Gedanke nach meiner Mutter, Ihnen. Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen. Ich mache um diese Art Ehrung nicht viel Aufhebens. Aber diese ist zumindest eine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, was Sie für mich waren und noch immer sind, und um Ihnen zu versichern, dass Ihre Mühen, die Arbeit und die Großherzigkeit, die Sie eingesetzt haben, immer lebendig sind bei einem Ihrer kleinen Zöglinge, der trotz seines Alters nicht aufgehört hat, Ihr dankbarer Schüler zu sein. Ich umarme Sie von ganzem Herzen. Albert Camus *

Der kleine Albert besuchte die örtliche Gemeindeschule in der Rue Aumerat in Algier von 1918 bis zum Wechsel aufs Lycée 1923. Und eben das, dass es überhaupt dazu kam, verdankte er im Wesentlichen seinem Lehrer Monsieur Germain: Der hatte gegen den erklärten Willen der gestrengen Großmutter Alberts dafür gesorgt, dass der begabte Junge aufs Gymnasium gehen durfte. Er unterstützt ihn bei der Bewerbung um ein Stipendium; gibt ihm und drei weiteren Schülern ab Januar unentgeltlich zwei Stunden zusätzlichen Unterricht pro Tag als Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung (1). Albert besteht die Prüfung und kommt nach den Sommerferien aufs Gymnasium. Wäre es nach seiner Großmutter gegangen, hätte Albert seinen Hauptschulabschluss gemacht und wäre dann – wie sein älterer Bruder Lucien, der mit 14 Jahren als angestellter Laufbursche seinen Wochenlohn nach Hause bringt – arbeiten gegangen. Doch dieses eine Mal hatte die Mutter Catherine Camus sich mit Hilfe von Monsieur Germain gegen das Familienoberhaupt durchgesetzt.

Aber schon zuvor hatte Louis Germain mit seinem Unterricht bei Albert einige Grundlagen gelegt, die nicht zu unterschätzen sind. „Ich glaube, ich habe während all meiner Berufsjahre das Heiligste im Kinde respektiert: das Recht, seine Wahrheit zu suchen,“ so schreibt er Jahrzehnte später an Camus, den er da immer noch mon petit, mein Kleiner, nennt (2). Wenn lehrplangemäß von Gott die Rede war, sagte er nur, dass manche an ihn glaubten, andere nicht; und beim Thema Religionen beschränkte er sich darauf, die anzugeben, die es gab und denen angehörte, wem es gefiel. „Ehrlich gesagt fügte ich hinzu, dass es Menschen gab, die keine Religion ausübten.“ Zu den Lehrern, die sich zu „Handelsvertretern für Religion“ (genauer: für katholische Religion) machten, wollte er nicht gehören (3).

Louis Germain verstand sich als Lehrer, der im Geist der Aufklärung unterrichtet: Sapere aude! Wage zu wissen! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Einer, der seine Schüler zu freiem Denken erzieht, sie ermutigt, selbst ihre Wahrheit zu suchen, das Denken nicht an die Kirche oder die Religion abzutreten.

Camus hätte sicherlich nicht gedacht, dass der Brief an seinen alten Lehrer 63 Jahre später eine so große Öffentlichkeit finden würde. Der Anlass hätte ihn ganz ohne Zweifel erschüttert, so wie alle, die ihren Kopf auf dem Hals und ein Herz in der Brust tragen: Vor wenigen Wochen, am 21. Oktober 2020, verlas eine 14-jährige Schülerin im Innenhof der Sorbonne in Paris eben jenen Brief auf der nationalen Gedenkfeier für den Lehrer Samuel Paty. Wie Louis Germain verstand sich auch Samuel Paty als einer, der seine Schüler im Geist der Aufklärung unterrichtet. Sie zu freiem Denken erzieht, sie ermutigt, selbst ihre Wahrheit zu suchen. Ein islamistischer Terrorist hat ihm am 16. Oktober in Paris auf offener Straße nahe seiner Schule den Kopf abgeschlagen. Im Namen eines zutiefst falsch verstandenen Religionsverständnisses, das frei denkende Köpfe so wenig erträgt, dass ihm als Mittel der Auseinandersetzung nur das Dekapitieren einfällt.

Diesen Beitrag widme ich allen Lehrerinnen und Lehrern, die ihren Beruf im Geist von Louis Germain und Samuel Paty ausüben, und in dankbarer Erinnerung an jene Lehrerinnen und Lehrer in meiner eigenen Schullaufbahn, die mir den freien Raum eröffneten, in dem ein junger Mensch sich aufmachen kann, „seine Wahrheit zu suchen.“ Und wenn Sie auch solche Lehrer, solche Lehrerinnen hatten: Danken Sie es ihnen, bevor es zu spät ist…

***

P.S. Ich muss gestehen, dass es mich zutiefst irritiert, dass unter den militanten Coronaleugnern, die gestern wieder zu tausenden gemeinsam mit Nazis und Hooligans in Berlin aufmaschiert sind, und die ihre Kinder missbrauchen, indem sie diese als Schutzschilder vor den Wasserwerfern der Polizei in die erste Reihe stellen, auch Lehrerinnen und Lehrer aller Stufen sind. Da läuft das Selberdenken wohl nicht einfach bloß quer, sondern komplett verquer in die falsche Richtung. Anderes Thema. Ich wollte mir von denen nur nicht diesen Beitrag kaputtmachen lassen und anmerken: Ihr seid nicht gemeint.



*Abdruck in: Der erste Mensch, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 182
(1) Camus-Biograph Olivier Todd beschreibt diesen Lebensabschnitt in Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, im 2. Kapitel «Bravo, Knirps. Du hast bestanden», S. 19-31. Allerdings gibt er für den Wechsel aufs Gymnasium das Jahr 1924 an, anders als mehrere französische Quellen, u.a. die des Centre Albert Camus-Cité du Livre d’Aix-en-Provence.
(2) Brief vom 30. April 1959, abgedruckt in Der erste Mensch, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 284
(3) a.a.O.. S. 284f.

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3 Antworten zu 19. November 1957: Albert Camus schreibt einen Brief

  1. PIERRE SCHOTT sagt:

    ❣️

  2. Michael Kuhlencordt sagt:

    Wie beeindruckend wieder, woran Sie erinnern. Eine Analphabetin als (notwendigerweise) herrische Großmutter und eine Mutter mit wohl frühkindlicher Hirnschädigung. Welch spärliche, trostlose Vorraussetzungen um das zu leisten, was ihm durch seinen Lehrer ermöglicht wurde. Und ihn nicht zu vergessen, sondern, bescheiden ihm zu danken. Danke Ihnen sehr für Ihr Engagement und Ihr ‚vom Absurden zur Liebe‘ Gruß , Michael Kuhlencordt

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